Leid in Relation

Leid darf man nicht relativieren. Aber man muss es in Relationen setzen. Wer eine Prüfung nicht besteht oder bei wem die Heizung im Winter für eine Woche ausfällt, der leidet. Denkt man sich zumindest. Weil es allen anderen besser geht. Schließlich war ich der Einzige unter den Freunden, der die Prüfung nicht bestanden hat. So ein Mist! Erst recht, wenn die Heizung ausfällt. Man friert sich zu Tode. Schneller als man denkt, sinkt die Temperatur auf einen gerade noch zweistelligen Wert. Nun heißt es in der WG der Freundin Unterschlupf zu finden. Zur Not auch bei den Eltern oder den Freunden. Dann gilt es dem Vermieter zu vermitteln, er möge sich um die Funktionstüchtigkeit der Heizung kümmern. So viel Stress! Und das alles gerade in der Prüfungsphase. Womit auch das Scheitern zu begründen wäre. Dann noch die Sache mit dem Sport. Eigentlich spiele ich im Winter einmal die Woche Hallenfussball in einer Sporthalle drei Straßen weiter. Seit einigen Wochen ist das nicht mehr möglich. Flüchtlinge wohnen jetzt darin, nicht für immer aber vorübergehend. Also geht’s an den Kleiderschrank, Handschuhe gesucht, langärmligen Pulli angezogen und rauf auf den Rasen. Ganz schön kalt muss ich sagen. Aber wer nicht nur faul herumsteht, dem wird’s schnell wärmer. Wir spielen ja auch nicht viel länger als ne Stunde. Nach dem Sport auf dem Heimweg denke ich mir, als der Schweiß immer kälter wird, dass das jetzt bloß eine Stunde war, aber trotzdem verdammt kalt. Natürlich hätte man mit den Flüchtlingen auch tauschen können, zumindest gedanklich. Aber das hieße, sie wären die ganze Zeit der Kälte ausgesetzt. Ja also, das heißt dann wiederum, wenn ich eine Stunde in der Kälte am Ball brilliere statt in der wohligen Wärme, dann helfe ich dabei, dass andere Menschen diese Kälte nicht dauerhaft erleiden müssen. Plötzlich trotze ich der Kälte wie ein Held. Schließlich kann ich mich mit der Abscheu vor dauerhafter Kälte identifizieren, habe ich mich doch bei einer 10°C kalten Wohnung schon auf Kälteflucht begeben. Zum Glück kenne ich nette Menschen, die mich nicht nur dann aufnehmen, wenn in meiner Wohnung jeden Tag ein Molotow Cocktail landet. Zuhause fröstelt es mich ein wenig. Ab unter die heiße Dusche. Ich werde traurig, weil ich merke, wie gut ich es habe und wie sehr ich mich dennoch immer wieder beschwere. Gleich aus der Dusche gibt’s lecker Nudeln mit Schafskäse. Verdammt geil, vor allem mit gerösteten Pinienkernen dazu. Ich leide keinen Hunger, obwohl ich finanziell weit unter dem deutschem Durchschnitt liege. Ich weiß zwar nicht genau, in welcher Größeordnung sich der Durchschnitt bewegt, aber ich liege mit ziemlicher Sicherheit darunter. Gesättigt und kaputt vom Sport bin ich am Abend auf der Couch neben meiner ehemaligen Asylgeberin nur noch eines, und zwar dankbar. Darüber, wie gut ich es habe, weil ich unter allen Orten auf dieser Welt, an denen ein Mensch geboren werden kann, gerade an dem Ort geboren bin, an dem ich sogar noch als einkommensschwacher Mitbürger Schafskäse und geröstete Pinienkerne unter meine Nudeln mischen kann. Selbstverständlich nicht jeden Tag, hin und wieder aber kann ich mir das erlauben. Außerdem bin ein bisschen stolz darauf damit meinen Beitrag leisten zu können, denen zu helfen, die gerade den Negativ-Sechser gewonnen haben. Und das mit einem Opfer, welches eigentlich keines ist. Mittlerweile sehe ich es eher als Umstellung. Vielleicht werde ich noch ein größeres Opfer auf mich nehmen. Dann aber, das habe ich daraus gelernt, werde ich es so betrachten: Was ich einbuße, das wird für andere um ein Vielfaches gewonnen sein. Und eines weiß ich mit Gewissheit, ich werde trotzdem noch dankbar und glücklich sein, solange es keinen wirklichen Grund gibt, es nicht zu sein.

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