Eingerichtet haben wir es uns. Schön warm und kuschelig. Dann öffnet sich die Tür, der Wind bläst mit halber Kraft ins Feuer und eine ins Zimmer gedrungene Flocke setzt sich auf die Seite eines aufgeschlagenen Buches. Ich schließe ab. Keine Probleme mehr. Draußen pfeift und wütet der Wind bei beißender Kälte. Sonst so sanfte Schneeflocken verwandeln sich in eiskalt glühende Nadeln. Kein Problem für mich, interessiert mich nicht. Meine Realität ist eine andere. Das Feuer knackt und pfeift, ganz trocken war das Holz wohl noch nicht. Dass es draußen kalt ist, hat keine Bedeutung für mich. Zumindest solange das Feuer brennt und auch niemand auf die dummdreiste Idee kommt abermals die Tür zu öffnen. Ich vergrabe mich in meine flauschige Decke und verschwende keinen Gedanken daran, wie es jetzt wohl wäre draußen zu sein. Schließlich gibt es keinen Grund dazu.
So oder so ähnlich soll mein Gleichnis aussehen. Wir sehen uns konfrontiert mit einer Sache, die wir bislang weitgehend ignorieren konnten. Uns geht es gut. Nicht allen gleich, einigen deutlich schlechter als anderen. Aber im Durchschnitt doch ziemlich prächtig. Wir haben genug zu essen, haben es warm und trocken. Wir müssen uns nicht primär um die Nahrungsbeschaffung oder um unser Überleben Sorgen machen. Ja, alles eine Frage der Perspektive. Jedoch nur für diejenigen, die sich den Luxus der Perspektivfrage erlauben können.
Doch auf einmal wird alles anders. Es kommen Menschen, lediglich ein Bruchstück einer gigantischen Menge, für die all jenes keine Selbstverständlichkeit ist. Die ihr Zuhause verloren haben, vor dem Tod flüchten müssen. Das stößt auf Ablehnung. Ich frage mich, wie man so etwas ablehnen kann. Warum entschließt man sich gegen die Ärmsten der Armen, gegen die Schwachen und Hilfsbedürftigen zu wettern. Eine Frage, die mich sehr beschäftigt.
Eine Antwort, die es mir erklärbar machen soll, sehe ich in der neuen Realität, die von den flüchtenden Menschen mitgebracht wird. Es ist bequem der Arme, das Opfer und der Betrogene zu sein. Nichts macht es einem einfacher Eigenverantwortung ablehnen zu können.
Eine Realität, in der Menschen nichts haben, um ihr Überleben kämpfen müssen und auf das Wohltun von Fremden vertrauen müssen. Eine Welt, in der man ohne Perspektive oder Chance alles verliert oder niemals etwas hatte, wirft die eigene Opferrolle schnell über den Haufen. Der Unterschied von früher zu heute ist, dass diese Realitäten, die bislang weit von uns entfernt existierten, auf einmal in greifbare Nähe geraten. Abstrakte Realitäten werden real.
Vorher waren diese anderen Realitäten einfach zu abstrakt, als dass wir sie auch als solche akzeptiert hätten. Zu grausam, trist und traurig sind die Bilder, die gelegentlich über den brandneuen 3D-Fernseher huschen. Daher gelten nicht die gleichen Parameter, wie für uns. Die wirklich armen Menschen verlieren ihre Menschlichkeit, wie auch Rotkäppchen diese verliert, wenn sich das Buch schließt. Denn all das sind nur Geschichten von einem Ort weit, weit entfernt. Geschichten, die einst einmal vor langer Zeit und in diesem Fall gerade im Moment weit, weit weg geschehen, eine Art Live-Märchen ohne Happy End. „Weit, weit entfernt“ ist hierbei das Äquivalent zu „Vor langer Zeit“. Das alles kann gar nicht existieren, weil wir es uns in unserem Wohlstand nicht vorstellen können.
Nun aber erreicht das schlimme Schicksal vieler Menschen unser wohliges und gemütliches Zuhause und damit auch eine für uns neue Realität. Ein eisiger Hauch durchzieht die Wohnung. Nicht viel mehr als eine Ahnung hinterlässt er, aber das reicht schon. Denn wie es so ist: Nur das, was man anfassen kann, das gibt es auch wirklich. Ignorieren funktioniert nicht mehr. Demnach ist man gezwungen, sich wirklich mit der neuen Situation auseinandersetzen und folglich auch mit sich selbst.
Es stellt sich dann die Frage, wie wir mit dieser neuen und veränderten Realität umgehen wollen. Entweder wir wehren uns mit aller Macht gegen die Existenz dieser grausamen Welt, um die eigene Situation weiterhin unter einem absoluten Maßstab der Ungerechtigkeit sehen zu können. Oder aber wir überdenken unsere Rolle in Deutschland und der Welt noch einmal. Das jedoch ist kompliziert und anstrengend, diese blöde Selbstreflektion. Davor will man sich drücken. Weil es aber immer schwieriger wird das zu tun, werden die Reaktionen und Gefühle auch immer energischer. Man flüchtet selbst, schützt sein Weltbild und gesteht Menschen, denen es viel schlechter geht, als einem selbst, nicht einmal das Bedürfnis nach Sicherheit ein. Weil man selbst derjenige sein will, der das größte Leid zu ertragen hat. Am besten ohne viel dabei leiden zu müssen.