Erst das Parlament, dann der Förderalismus? Wie viel Demokratie wollen wir opfern?

Gerade in diesem Moment ist die Regierung im Begriff einen der größten denkbaren Fehler zu machen. Nicht aus Böswilligkeit oder hintertriebenen Motiven, der Grund hierfür liegt in einem Merkmal moderner Politik: Fehlende Weitsicht.

Es geht um eine erneute Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Schon zum Ende des letzten Jahres wurde es bereits einmal geändert. Damals mit dem Ziel die von der Kanzlerin einberufenen kleinen Minister-Runden gesetzlich zu legitimieren. Warum das problematisch ist, habe ich bereits in einem anderen Text dargelegt. Um es kurz zu machen: In der ersten Änderung wurde das Parlament geschwächt und in der Änderung, die das Kabinett nun durchsetzen will, soll der Föderalismus eingeschränkt werden. Ein unglaublich gefährliches und kurzsichtiges Unterfangen. Denn sowohl der Föderalismus als auch der Parlamentarismus sind aus gutem Grund eingeführt worden. Sie sind Schutzmauern der Demokratie, sie machen sie standhaft und widerstandsfähig und sie zu schwächen zeugt von großer Naivität und wenig Weitsicht.

Ein hoher Preis für das bisschen Einigkeit

Warum? Wie gesagt unterstelle ich der Regierung keine unlauteren Motive, kein willentliches Bestreben die Demokratie zu schwächen. Sie wollen keine Autokratie oder eine neue Weltordnung. Das sind alles Verschwörungstheorien, denen ich überhaupt nichts abgewinnen kann. Zweifellos werden wir von Demokraten regiert. Und dennoch sägen sie an zwei elementaren Grundpfeilern der deutschen Politik. Die Regierung tut das, weil sie sich in einem Tunnel befindet, der von nichts anderem beleuchtet wird als der Inzidenz. Dieser eine Messwert ist alles, was die Regierung sieht und alles, worum es in der deutschen Corona-Politik momentan geht. Über ihn hinaus verliert sich jegliche Übersicht. Weder die Kollateralschäden an der Zivilgesellschaft noch die psychischen Ausnahmezustände so vieler Bürger werden wahr- bzw. ernst genommen. Die Regierenden sehen den einheitlichen Bundeslockdown als eine Möglichkeit die Inzidenz effektiv zu senken, aber übersehen den Preis, den die Demokratie womöglich irgendwann einmal dafür zahlen muss. Und der ist hoch.

Gefährlich wird das Infektionsschutzgesetz durch die zweite Änderung innerhalb kurzer Zeit, weil die Macht der Kommunen und Länder beschnitten wird. Und wie auch bei der Schwächung des Parlaments ist der einzige Wert, der über Macht oder Entmachtung entscheidet, der Inzidenzwert von 100. Ein Singulärwert. Keine anderen Zahlen spielen eine Rolle, keine Impfquote, nicht die Kapazität und Auslastung der Intensivbetten, nicht der R-Wert. Das alles spielt in einer so entscheidenden Frage keine Rolle. Es ist ausschließlich der Inzidenzwert. Ein Wert. Man könnte über eine gesetzliche Grundlage für bundeseinheitliches Handeln reden, aber nicht unter dieser Voraussetzung. Denn der Inzidenzwert ist manipulierbar, man kann ihn herbei testen. Nicht nur bei einem Corona-Virus. Auch auf andere Viren ist das Infektionsschutzgesetz anwendbar. Genau dieser Umstand macht aus der Gesetzesänderung das Feigenblatt unserer Demokratie.

Eine Landkarte hinaus aus der Demokratie

Weil die Inzidenz als Wert beliebig veränderbar ist, wird es zukünftig immer möglich sein sowohl das Parlament als auch die Kommunen und Länder ohne großen Aufwand ein Stück weit zu entmachten. Erinnern wir uns an den Sinn und Zweck des Parlaments und an den Sinn und Zweck des Föderalismus, kann man als Demokrat nichts anderes als beunruhigt sein ob dieses in höchstem Maße naiven Vorgehens. Keiner kann garantieren, dass nicht wieder extremere Parteien in Deutschland an die Macht kommen. Vieles ist in den letzten Jahren politisch passiert, das ich für unmöglich gehalten hätte. Was passiert, wenn die AfD auf einmal einen charismatischen Vorsitzenden bekommt? In diesem aufgeheizten und gesellschaftlichen sehr angeschlagenen Land, wer kann mir garantieren, dass nicht einmal Extremisten an die Macht kommen? Das neue Infektionsschutzgesetz ist nichts anderes als eine recht präzise Landkarte hinaus aus der Demokratie. Der Föderalismus war als Bollwerk gegen jeden Versuch gedacht die Demokratie zu schwächen. Wie kann es sein, dass wir wichtige Stützpfeiler aus dem Bollwerk entfernen? Freiwillig.

Bei Inkompetent ist das System unerheblich

Nur für ein bisschen mehr Einigkeit? Ist der Föderalismus wirklich Schuld am ausbleibenden Erfolg der Regierung? Natürlich nicht. Denn erstens hat die demokratisch nicht legitimierte Ministerpräsidentenkonferenz überhaupt nichts mit dem Prinzip des Föderalismus zu tun. Wären Diskussionen über das Parlament gelaufen, dann hätten Beschlüsse vermutlich auch eher Akzeptanz gefunden. Einfach, weil die Ergebnisse besser gewesen wären. Zweitens ist die Regierung auch so alles andere als machtlos. Sie hatten alle Möglichkeiten Konzepte zu erarbeiten, die in allen Bundesländern angewendet worden wären. Sie hatten genug Zeit Lüftungsanlagen für Schulen zur Verfügung zu stellen; welcher Ministerpräsident hätte diese abgelehnt? Sie hatten genug Zeit jeder Stadt genug Tests zur Verfügung zu stellen, die für wöchentliche Testungen ausgereicht hätten. Der Punkt ist: Sie hatten genug Zeit ihrer Arbeit nachzukommen. Dass die Regierung die Zeit nicht genutzt hat, daran trägt der Föderalismus keine Schuld. Wenn eine Regierung inkompetent ist, dann ist es unerheblich ob es das Land föderal oder zentralistisch ist. Es wird so oder so nichts funktionieren.

Ein Ziel, das die Regierung mit dem neuen Gesetz vermutlich verfolgt, ist von der eigenen Untätigkeit abzulenken. Angesichts der anstehenden Bundestagswahlen macht es durchaus Sinn jetzt das Wer-hat-Schuld-Spiel zu spielen. Ich kann das verstehen, schließlich geht ein bisschen die Panik umher in vielen Parteien. Aber unredlich ist es dennoch. Weil man die Büchse der Pandora öffnet. Wenn das Gesetz einmal beschlossen ist, dann bleibt es. Und jeder Antidemokrat wird sich an dieses Gesetz erinnern. Man ruft eine epidemische Lage von nationaler Tragweite aus und schon hätten Feinde der Demokratie zwei ansonsten schwer zu überwindende Hindernisse hinter sich gelassen.

Demokratie der Zukunft muss der Beständigkeit der Vergangenheit folgen

Wer das alles damit abtun will, dass ja auch die Querdenker gegen das Gesetz seien: Das ist völlig egal! Was die denken und sagen, ist unwichtig. Man darf sich von denen nicht abhängig machen. Vielmehr sollte jeder Demokrat besorgt sein. Vor allem, wenn man an die Zukunft denkt, an politische Umwälzungen, an gesellschaftliche Polarisierung und an die junge Generation. Niemand kann sagen, was kommt und wer einmal regiert. Aus dieser Ungewissheit kann nur die Gewissheit erwachsen, dass auch die Demokratie der Zukunft der Beständigkeit der Vergangenheit folgen muss.

Vielen Menschen scheint die Tragweite des neuen Infektionsschutzgesetzes nicht bewusst zu sein. Vielleicht auch, weil es keine unmittelbare Gefahr bedeutet. Und alles, was keine direkten Auswirkungen hat oder gar angefasst werden kann, wirkt weniger schrecklich als unmittelbare Gefahr. Aber wollen wir wirklich so kurzfristig denken? Wollen wir wirklich zulassen, dass in den Wirrungen einer zunehmend polarisierten Gesellschaft die Demokratie weniger wehrhaft wird? Ich glaube und hoffe doch nicht.

Das wird es nicht wert gewesen sein

Kritik regt sich parteiübergreifend. Neben der FDP mehren sich auch kritische Stimmen aus der Linken. So hat Gregor Gysi beispielsweise auch gegen das neue Gesetz ausgesprochen.

Ich halte es für einen schwerwiegenden Fehler, wenn der Bundestag die Bundesregierung autorisiert, per Rechtsverordnungen ohne Kontrolle des Bundestages & unter Streichung von Rechten der Kommunen & Länder zu operieren. Wir müssen das Grundgesetz schützen.

Es geht um weit mehr als um einen einheitlichen Lockdown. Zwar nicht in Köpfen der Regierung, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, sondern für die demokratische Ordnung der Zukunft. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Kurzfristig mag das neue Infektionsschutzgesetz vielleicht ein für die Regierung nützliches Instrument sein. Bleibt es aber über die Krise hinaus erhalten, dann kann man sicher sein: Das war es nicht wert.

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